Hans-Georg Huber zu seinem Buch "Sinnvoll erfolgreich" und den Themen Führung, Werten und Unternehmenskultur
Hans-Georg Huber im TV-Gespräch mit Adrian Dunskus über Führung, Werte und Unternehmenskultur

Hans-Georg Huber im Alpha-Forum des Bayerischen Fernsehen

Unser Gast ist heute der Managementberater Hans-Georg Huber.
Herr Huber, vorweg eine kleine Anekdote aus Ihrem Buch Sinnvoll erfolgreich:
Sagt der Finanzchef eines großen Unternehmens zu seinem Assistenten: „Suchen Sie im ganzen Unternehmen einen jungen, dynamischen, karriereorientierten Mann, der alle Voraussetzungen hat, meinen Job zu machen. Und wenn Sie ihn finden, dann schmeißen Sie ihn raus!“
Ist das nur ein Witz weit weg von der Praxis oder ist das die Beschreibung einer Führungsrealität, der Führungswirklichkeit in deutschen Unternehmen?

Teils, teils. In vielen Unternehmen sind heutzutage die Führungskräfte nur noch ein oder zwei Jahre in ihrer Position. Sie stehen dabei sehr unter Druck, sie machen sich aber auch selbst sehr viel Druck, weil sie sehr karriereorientiert sind. Dabei geht eben auch die Förderung der Mitarbeiter unter. Genau das ist ja eigentlich mit diesem Witz gemeint, denn in diesem Fall wäre es natürlich gut, genau diesen Menschen weiter nach oben zu bringen, ihm eine Karrierechance zu bieten. Für Mitarbeiterführung ist in unseren Unternehmen, und hier vor allem in den großen Unternehmen, eigentlich immer weniger Platz.

Sie sind Managementberater. Was macht ein Managementberater? Was gehört für Sie zu diesem Feld mit dazu?

Ich arbeite in drei Bereichen. In einem dieser drei Bereiche arbeite ich mit Führungskräften. Das bedeutet Coaching von Führungskräften; ich mache also Einzelgespräche mit Führungskräften; ich mache Seminare für Führungskräfte, in denen es um Führungskompetenz geht. Das ist der eine Bereich. Der zweite Bereich ist ein Schwerpunktthema von mir: Ich arbeite dabei mit der jeweiligen Unternehmenskultur. Ich betrachte nämlich eine gute Unternehmenskultur als Voraussetzung für besondere Leistungen in einem Unternehmen. Und der dritte Bereich: Ich bilde Trainer aus, ich bilde Coaches aus, die dann ebenfalls in der Wirtschaft tätig sind.

Bleiben wir mal beim Thema „Unternehmenskultur“. Was macht denn eine Unternehmenskultur aus? Ist das wirklich ein wichtiger Faktor oder ist das lediglich etwas, das vor allem von Leuten vertreten wird, die damit ihr Geld verdienen wollen?

Ich denke, das ist sogar ein ganz entscheidender Faktor, denn eine gute Unternehmenskultur sorgt dafür, dass die Mitarbeiter mit ihrem Herzblut, mit Engagement dabei sind, dass wirklich Synergien entstehen, dass es eine wirklich gute Kommunikation gibt, dass die Leute also im Grunde genommen wirklich ihr Bestes, ihre Leidenschaft einbringen in den Arbeitsprozess.

Wie erreicht man das? Wie kommt man zu einer guten Unternehmenskultur? Wann ist sie vorhanden und kann man sie erschaffen, wenn sie gar nicht oder nicht mehr da ist? Müssen Unternehmen, die keine Unternehmenskultur haben, die Hoffnung begraben, je eine Unternehmenskultur zu haben?

Nein, man kann die Unternehmenskultur selbstverständlich beeinflussen. Was wir aber zurzeit erleben ist die Tatsache, dass die Unternehmenskultur einfach übersehen wird. Man guckt aufgrund des Drucks, den die Quartalsergebnisse vor allem bei großen Aktiengesellschaften auslösen, im Moment sehr auf die Zahlen. Man achtet nur noch auf diese einfache Formel: Mehr Gewinn bedeutet mehr Umsatz und weniger Kosten! Darauf achtet man in der heutigen Zeit fast ausschließlich. Aber man übersieht dabei häufig die Menschen in diesen Unternehmen. Für mich lautet also das Thema dabei: Wie gut gelingt es bei diesem Prozess, die Menschen mitzunehmen? Denn es ist so, dass sich bei all dem viele Mitarbeiter zurückziehen und nur noch Dienst nach Vorschrift machen. Es gab in der letzten Zeit ja viele, viele Untersuchungen zu diesem Thema, die belegen, dass in den meisten Unternehmen vielleicht noch zehn bis fünfzehn Prozent der Mitarbeiter wirklich mit Herzblut dabei sind. Das hat viel mit Unternehmenskultur zu tun. Die Identifikation der Mitarbeiter mit ihrem Unternehmen ist also deutlich geschwunden.

Wenn Sie zu einem Unternehmen gehen, das erkannt hat, dass man dort eine schlechte Unternehmenskultur hat, und Sie nun diesem Unternehmen bei diesem Problem helfen wollen, dann müssen Sie ja so ein Unternehmen zuerst einmal dazu bewegen, dass es Gelder dafür bewilligt. Für dieses Geld wird das Unternehmen dann natürlich im Gegenzug auch Ergebnisse sehen wollen, im Zweifelsfall sogar messbare Ergebnisse. Wie überzeugen Sie skeptische Manager, wenn es um Unternehmenskultur geht?

Ein einfaches Beispiel hat mit den Konflikten in einem Unternehmen zu tun. Nehmen wir als Beispiel den Konflikt zwischen zwei Geschäftsführern oder zwei Vorständen eines Unternehmens. So etwas kostet das Unternehmen ein Vermögen, unter Umständen kann so ein Konflikt das Unternehmen sogar die Existenz kosten. Wenn zwei Vorstände nicht mehr vernünftig miteinander reden können, sich ständig in die Haare kriegen und es dem einen sofort die Nackenhaare aufstellt, sobald der andere etwas sagt, dann heißt das, dass hier ein riesiger Reibungsverlust entsteht. Wenn man das nun auf die Kultur eines Unternehmens überträgt, dann stellt man fest, dass der Reibungsverlust dadurch natürlich noch um ein Vielfaches größer ist. Bei zwei Vorständen, von denen jeder zwei Millionen Euro im Jahr verdient, kann man das ja noch genau angeben: Wenn es einen Reibungsverlust von 40 Prozent gibt, dann macht das 800000 Euro pro Mann und Nase im Jahr aus. So könnte man rechnen, so könnte man immerhin auch rechnen. Das Problem ist aber, dass die Unternehmenskultur zunächst einmal nur qualitativ messbar ist. Sie ist qualitativ messbarer darüber, wie sehr oder wie wenig sich die Mitarbeiter in einem Unternehmen wohl fühlen, wie gerne sie in dieses Unternehmen gehen, wie sehr bei ihnen ihre Arbeit ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens ist, der ihnen neben dem Geld auch noch Zufriedenheit und Erfüllung gibt. Das sind zuerst einmal alles nur qualitative Größen, die sich irgendwann aber sicherlich auch quantitativ niederschlagen. Ich denke, das ist natürlich auch mit ein Grund dafür, warum man diesen Bereich vernachlässigt. Denn diese übliche Rechnung, dass man so und so viel Geld investiert und dann so und so viel Rendite herauskommen muss, funktioniert in diesem Bereich nicht so ohne Weiteres. Auf der anderen Seite kann man sich jedoch sehr wohl vorstellen, dass ein Unternehmen hinsichtlich des Engagements seiner Mitarbeiter auch ausbluten kann. Im Moment sieht die Situation in den deutschen Unternehmen so aus, dass sich dort die Menschen sehr anstrengen: Das bekomme ich ganz eindeutig mit. Ich habe ja den Vorteil, dass bei mir beim Coaching und im Seminar die Menschen sehr offen sind; sie müssen ja bei mir keine bestimmte Rolle spielen. Ich bekomme also mit, dass sich die Mitarbeiter sehr anstrengen. Genauer gesagt ist es sogar so, dass die meisten heute bereits überanstrengt sind, weil sie sich so unglaublich anstrengen. Aber dieser Druck alleine erbringt noch keine besonderen Leistungen. Wir kennen das ja auch aus dem Sport: Bis zu einem gewissen Grad ist Anstrengung ja wunderbar, aber ab einem bestimmten Maß führt Anstrengung dazu, dass man verkrampft, dass man nicht mehr genügend flexibel ist, und dann wird es schwierig. Insofern braucht es also auch in den Betrieben eine andere Form von Motivation. Es braucht etwas, das die Leute anzieht, das sie attraktiv finden, bei dem sie Lust haben, wirklich etwas zu bewegen und zu bewirken. Das geht heute jedoch unter. Und genau das halte ich im Moment in vielen Unternehmen für ein großes Problem.

Wenn Sie Unternehmen in Fragen der Unternehmenskultur beraten, dann müssen diese Unternehmen ja erst einmal auf Sie zukommen. Denn Sie können ja vermutlich niemanden beraten, der das als Problem noch gar nicht erkannt hat.

Das ist richtig.

Kommen also wirklich diejenigen Leute auf Sie zu, die es nötig haben? Oder ist es nicht so, dass derjenige, der dieses sein Problem erkannt hat, es dadurch auch schon halb gelöst hat? Während der andere, der das nicht erkannt nicht, es auch niemals wird lösen können?

Gut, das ist ein altes Thema. Das kennen wir natürlich auch aus Führungsseminaren: Diejenigen Leute, die es eigentlich am dringendsten hätten, kommen nicht. Es braucht in der Tat ein bisschen Offenheit, um die Relevanz dieses Themas überhaupt erkennen zu können. Ich glaube aber, im Moment wird das zunehmend mehr erkannt. Denn das ist in den Unternehmen einfach spürbar. Man muss sich ja nur einmal all die Umstrukturierungen ansehen, die in den letzten Jahren gemacht worden sind: Da wurden Abteilungen aufgelöst, da wurde die Hälfte der Mitarbeiter ganzer Abteilungen rausgesetzt usw. Das hat natürlich viel angerichtet in so einem Unternehmen: bei den Menschen, bei der Unternehmenskultur. Und genau das wird so langsam spürbar. Das Problem ist halt einfach: Man kann eine Unternehmenskultur nur langsam aufbauen, aber man kann sie leider ganz schnell ruinieren. Das hat natürlich viel mit Führungskompetenz zu tun, damit, dass man als Führungskraft auch wirklich Gärtner der eigenen Unternehmenskultur sein muss: Es ist notwendig, dass man als Führungspersönlichkeit in einem Unternehmen auch dafür eine Mitverantwortung übernehmen muss. Nehmen wir ein simples Beispiel. Wenn Topmanager irgendwelche Aussagen machen, dann ist das immer auch eine Botschaft an die Unternehmenskultur. Es gibt natürlich auch Botschaften, von denen man sagen kann, man kann sie sich wirtschaftlich leisten. Nehmen wir als Beispiel: Der Vorstand erhöht sein Gehalt um 20 Prozent. Das ist bei einem großen Unternehmen wirtschaftlich überhaupt kein Problem. Aber man kann sich zu bestimmten Zeiten diese Botschaft an die Unternehmenskultur nicht leisten. Denn die Mitarbeiter sind dann mit Recht emotional betroffen und sagen: „Das kann doch wohl nicht wahr sein! Bei uns wird an allen Ecken und Enden gespart, wir bekommen täglich unglaublichen Druck und oben wird das Geld einfach so verteilt!“ Das sind also alles auch immer Botschaften an die Unternehmenskultur und eine solche Botschaft richtet natürlich auch Schaden an. Das heißt, eine Führungskraft muss im Grunde genommen eine gute Unternehmenskultur auch adäquat kommunizieren können; sie muss jede ihrer Entscheidungen daraufhin prüfen, welche Konsequenzen das für die Unternehmenskultur hat.

Sie haben die Kommunikation angesprochen: Die Kommunikation ist ein Baustein der Unternehmenskultur. Was sind denn andere Bausteine? Woraus besteht eine Unternehmenskultur noch?

Eine Unternehmenskultur besteht in der Tat aus der Kommunikation in einem Betrieb, sie schlägt sich aber auch nieder in den geteilten und gelebten Werten bzw. Unwerten in einem Betrieb. Sie baut sich zusammen aus unausgesprochenen Gesetzen und Regeln, wie man miteinander umgeht. Eine Unternehmenskultur kann also sehr geprägt sein von Vertrauen – oder eben auch von Misstrauen. Im Grunde genommen kann man also Folgendes sagen: Hätte ein Unternehmen so etwas wie eine Seele, dann wäre genau das die Unternehmenskultur. Es ist natürlich so: Wenn die Seele kränkelt, wenn sie krank ist, dann hat das natürlich auch Auswirkungen auf den Organismus, also in diesem Fall auf die Organisation und auf das wirtschaftliche Ergebnis.

Inwieweit ist denn eine solche Krankheit der Seele eines Unternehmens einer Behandlung über das Management zugänglich? Wie viel Handlungsspielraum, wie viele Hebel haben Sie denn da in Ihrer Zusammenarbeit mit dem Management, um daran etwas zu ändern? Die Voraussetzung ist natürlich immer, dass das Management dieses Problem bereits erkannt hat, denn ohne diese Einsicht geht es ohnehin nicht.

Ich glaube, der entscheidende Hebel ist das Thema „Glaubwürdigkeit“. Führungskräfte müssen glaubwürdig sein! Sind sie das nicht, geben sie keine Orientierung. Die Menschen in einem Unternehmen haben dann nichts, an dem sie sich orientieren können. Mit Glaubwürdigkeit meine ich nicht, dass man nur ausschließlich den Menschen, den Mitarbeiter in den Vordergrund stellt, denn so etwas kann sich nämlich ein Unternehmen auch nicht leisten. Eine Führungskraft muss also im Grunde genommen abwägen zwischen ganz unterschiedlichen Faktoren. Sie muss darauf achten, was bestimmte Dinge für das Unternehmen als Ganzes bedeuten, was das für die Kunden bedeutet, was das nach innen für die Mitarbeiter bedeutet, was das für die Perspektive des Unternehmens bedeutet. Das heißt, eine Führungskraft ist eigentlich ständig in einem Dilemma, das sich auch nicht so auflösen lässt, dass alle Probleme mit einem Schlag gelöst werden könnten. Eine Führungskraft ist dann glaubwürdig, wenn die Mitarbeiter erkennen können, auf welcher Wertegrundlage Entscheidungen getroffen werden. Wird der Faktor Unternehmenskultur oder das Wohl der Mitarbeiter überhaupt mit bedacht? Selbst dann, wenn eine Entscheidung getroffen wird, die den Mitarbeitern vielleicht weh tut, macht es einen Unterschied aus, wenn die Mitarbeiter erkennen können: „Das Management hat es wirklich versucht, sie haben wirklich geschaut und darüber nachgedacht, was das für uns heißt und sind dann aber trotzdem zu diesem Ergebnis gekommen.“ Glaubwürdig sind die Führungskräfte jedoch nicht, wenn die Mitarbeiter den Eindruck haben: „Wir sind hier eigentlich nur eine Kostengröße und als solche behandelt man uns auch!“ Das heißt, es geht wirklich darum, woran sich eine Führungskraft orientiert und ob das auch erkennbar ist. Das hat viel mit dem Thema „Haltung“ zu tun. Glaubwürdigkeit ergibt sich, wenn die Rolle, die jemand als Führungskraft, also auch als Entscheider einnimmt, seine Haltung und seine Persönlichkeit kongruent sind. Diese drei Dinge müssen zusammenpassen. Wenn das der Fall ist, dann entsteht Glaubwürdigkeit. Glaubwürdigkeit hat natürlich auch immer etwas Motivierendes und Mitreißendes an sich.

Wie entsteht denn klassischerweise so eine Beratungssituation, so eine Beratungsbeziehung, wie sie zu Ihrem Arbeitsalltag gehört? Kommt da einer aus der Geschäftsführung auf Sie zu? Kommt da womöglich der Chef oder gar der oberste Chef auf Sie zu? Oder ist es so, dass das mehr so von der Seite kommt, um in der Geschäftsführung einen kulturellen Wandel zu erreichen? Wie funktioniert das?

Das ist unterschiedlich. Bei mittelständischen Unternehmen, also überwiegend Familienunternehmen, kommt in der Regel der geschäftsführende Gesellschafter, also der Unternehmer selbst auf uns zu und sagt: „Wir haben da Bedarf, kommen Sie doch mal vorbei.“ In der Regel findet dann auch eine Diagnostik statt: Das heißt, man schaut wirklich, was eigentlich los ist, wo es sich lohnt den Hebel anzusetzen und was man machen sollte. Für Großkonzerne sind wir selbst als Unternehmen einfach zu klein. Bei einem Unternehmen wie DaimlerChrysler oder BMW sind wir als ein Unternehmen mit acht oder zehn Leuten viel zu klein, um so einen Wandel zu bewerkstelligen. Da läuft es eher so, dass wir mit einzelnen Abteilungen arbeiten, also im Grunde genommen mit Subkulturen. Da kommt in der Regel entweder die Abteilung auf uns zu oder die Personalabteilung oder die Personalentwicklung. Wir arbeiten natürlich auch mit und an der Kultur des Unternehmens in jedem Seminar, das wir zum Thema „Führungskompetenz“ machen.

Wie sieht denn der Unterschied aus zwischen Familienunternehmen und börsennotierten Aktiengesellschaften? Wer hat mehr Probleme? Wem fällt es leichter, eine gute Unternehmenskultur zu leben?

Ich denke, das ist in mittelständischen Unternehmen viel leichter, denn in den klassischen Familienunternehmen verkörpert ja der Unternehmer in seiner Person auch einen guten Teil der Unternehmenskultur. Im Zentrum steht ja immer dieses Thema „Macht und Verantwortung“: Dieses Thema ist personifiziert, wenn es einen Unternehmer gibt. In einem großen Konzern ist das jedoch nicht personifiziert, kann es so auch gar nicht personifiziert sein. Ich denke, wir Menschen haben ja alle ein ethisches Korrektiv ganz einfach darüber, dass wir uns von anderen Menschen berühren lassen. Wenn ich einen Mitarbeiter persönlich kenne, wenn ich seine Situation kenne, wenn man vielleicht sogar seine Eltern kennt, weil auch die schon in diesem Unternehmen gearbeitet haben, dann bedenke ich einfach viel mehr die Situation dieses Mitarbeiters bei einzelnen Entscheidungen. Wenn ich weit weg bin, dann ist das anders – und das gilt für uns alle, denn je weiter wir von den Menschen weg sind, umso weniger berücksichtigen wir sie auch hinsichtlich unserer Entscheidungen. In einem großen Konzern ist das alles natürlich viel schwieriger. Deswegen brauchen meiner Meinung nach Konzerne auch ein anderes Korrektiv, an dem sie sich bei ihren Entscheidungen messen lassen. Das sind für mich die Leitbilder, das sind Leitbilder, die auch wirklich gelebt werden. Damit meine ich nun nicht irgendwelche tollen Werbesprüche und Hochglanzbroschüren, sondern damit meine ich erkennbare und gelebte Leitbilder, an denen die Mitarbeiter die Unternehmensspitze auch tatsächlich messen können. Sind diese Leitbilder etabliert, dann wiederum ist die Situation eines großen Konzerns mit der eines mittelständischen Unternehmens vergleichbar. Denn man hat dann wirklich etwas, an dem man sich orientieren kann, an dem man etwas messen kann.

Wenn man sich solche Leitbilder mal näher ansieht – und sie sind ja öffentlich oder doch zumindest halböffentlich, sodass man auch tatsächlich an sie herankommt –, dann fällt einem oft auf, dass so ein Leitbild von einem Gremium beschlossen worden ist, und zwar erst nach langer Diskussion. Man merkt, dass man in dieser Diskussion sämtliche Ecken und Kanten des ursprünglichen Dokumentes abgefeilt hat, sodass das Ganze am Ende eigentlich nur noch nach Vanilleeis schmeckt. Ist das etwas, das auch Sie feststellen? Fehlt es diesen Leitbildern nicht oft an Verbindlichkeit, an Aussagekraft?

In den letzten zehn, fünfzehn Jahren wurde ja viel an der Corporate Identity gearbeitet. Der große Fehler, der dabei gemacht worden ist: Das waren meistens im Grunde nur sehr plakative Werbesprüche, die vor allem im Hinblick auf die Außenwirkung konzipiert wurden. Da wollte man sozusagen dem Markt die Botschaft vermitteln: „Guckt mal, was wir für ein tolles Unternehmen sind!“ Solche „Sprüche“ entfalten aber nicht diese von mir vorhin beschriebene Wirkung. Ein gutes bzw. ein stimmiges Leitbild – denn „gut“ muss ein Leitbild nicht sein, sondern es muss stimmig sein, es muss wirklich passen – setzt in den Menschen, die das leben, einfach ein ganz besonderes Maß an Engagement und Fähigkeit frei. Wenn das der Fall ist, dann ist das Leitbild gut. Ist das nicht der Fall, dann passiert häufig das Gegenteil. Ich kenne das von Mitarbeitern aus Unternehmen, die meinetwegen die Werbung ihres Unternehmens im Fernsehen sehen und denen sich dabei alle Nackenhaare aufstellen, weil sie sagen: „Ja, das ist schön gesagt, aber das hat nichts mit unserer Realität zu tun!“ Ich glaube also, das muss einfach passen. Wenn das nicht passt, dann ist das eher kontraproduktiv. Denn auch das beinhaltet ja wiederum eine Botschaft innerhalb der Unternehmenskultur: „Wir nehmen euch nicht ernst!“ Deswegen geht es darum, ein stimmiges Leitbild zu entwickeln. Dieses Leitbild muss keineswegs großartig sein, muss sich noch nicht einmal wahnsinnig toll anhören. Das Kriterium für ein stimmiges Leitbild ist für mich wirklich, dass die Menschen das Engagement und auch die Lust haben, dieses Leitbild zu leben oder sich zumindest daran zu orientieren und immer wieder darauf zurückzukommen. Das ist also kein heiliges Gesetzbuch, von dem man sagt: „Das muss jetzt immer hundertprozentig erfüllt werden!“ Nein, das ist ein Korrektiv, das ist so etwas wie die Leitplanken auf der Autobahn: Man kann an ihnen erkennen, ob man noch auf dem richtigen Weg ist: „Was heißt das in Bezug auf unsere momentanen Entscheidungen? Werden wir unserem Leitbild damit noch gerecht?“

Kann denn die Führung eines Unternehmens ein solches Leitbild überhaupt selbst autonom entwerfen? Oder ist es dafür nicht doch nötig, dass sie nachhaltig und dauerhaft auf die Mitarbeiter zugeht?

Das kommt auf die Größe des Unternehmens an. Bei einem Unternehmen mit 150000 Mitarbeitern, die international tätig sind, wird es nicht möglich sein, die Mitarbeiter von unten herauf mit einzubeziehen. Ein Leitbild braucht es meiner Meinung nach in jedem Fall zuerst einmal für die Führungskräfte. Die Führungskräfte muss man daher in jedem Fall mit einbeziehen. Denn sie sind ja diejenigen, die dieses Leitbild letztlich verkörpern müssen: Damit sollen sie ja auch eine Wirkung nach „unten“ zu ihren Mitarbeitern entfalten. Zumindest die Führungskräfte gehören also mit einbezogen. Für sie muss so ein Leitbild eben auch stimmig sein. Es geht nicht darum, einen Wunschzettel an den Weihnachtsmann zu erstellen und zu sagen, so und so soll es sein. Vielmehr geht es bei einem Leitbild wirklich darum, dass die Menschen Lust haben zu sagen: „Ja, genau so ist es!“ Nehmen wir als Beispiel mal ein Führungsleitbild. Die Führungskräfte müssen Lust haben, so zu führen, eine solche Haltung einzunehmen, das Leitbild als Korrektiv gelten und sich daran auch messen zu lassen. Es muss also auch ein Mitarbeiter zu seinem Chef kommen und sagen können: „Sei mir nicht böse, aber dem Führungsleitbild, das ihr etabliert habt, wirst du nicht gerecht! Ich möchte, dass du das änderst!“

Das verlangt doch eine sehr große Einsichtsfähigkeit und Demut von der Unternehmensleitung. Oder?

Demut? Ja. Wobei es aber so ist, dass Demut ja auch viel mit dem Thema „dienen“ zu tun hat. Ich denke, eine Führungskraft befindet sich immer in einer Situation, in der sie beides gleichzeitig ist: Sie ist gleichzeitig Herrscher und Diener. Das macht es natürlich auch schwierig für die Führungskraft, denn so muss sie in jeder Situation immer wieder aufs Neue schauen, wann denn eigentlich was angesagt ist: „Wann bin ich derjenige, der eine Entscheidung trifft und sagt: ‚Jetzt ist Schluss mit der Debatte, weil wir das jetzt so und so machen!‘? Und wann geht es wirklich darum zu dienen?“ Als Führungskraft bedeutet „dienen“, dem Mitarbeiter all das zu geben, was er braucht, damit er seinen Job gut machen kann. Zu dienen bedeutet auch, den Mitarbeiter in seiner Entwicklung zu fördern.

Was geben Sie denn den Führungskräften an die Hand, wenn Sie mit einer solchen Problematik zu Ihnen kommen? Die Führungskräfte kommen ja vermutlich häufiger mit der Frage zu Ihnen: „Ich weiß nicht so genau, wann ich zu entscheiden und wann ich zu dienen habe. Ich befinde mich da häufig in einem Zwiespalt. Wie kann ich den auflösen?“ Was sagen Sie diesen Leuten? Wir arbeiten wirklich sehr viel mit Führungsleitbildern: Das kann ja auch ein individuelles Führungsleitbild sein. Wenn z. B. eine Führungskraft zu mir zu einem Einzelcoaching kommt, dann muss ich mir meinerseits darüber bewusst sein, dass Führung heute sehr viel komplizierter geworden ist als früher. Denn heute spielen viel mehr Faktoren eine Rolle. Auch die Geschwindigkeit hat sich enorm erhöht: Heute kann ein Unternehmen in drei Jahren zum Weltmarktführer werden; denken wir z. B. nur einmal an das Unternehmen „Google“. Auch ein Unternehmen wie Nokia hat sich binnen zehn Jahren in eine solche Führungsposition bringen können. Früher gab es so etwas nicht: Früher hat es Generationen gedauert, bis so etwas möglich war. Das heißt, heute herrscht ein enorm hohes Tempo. Auch das Wissen veraltet viel, viel schneller als früher. Das heißt, Führung ist wahnsinnig komplex geworden. Und die Frage ist ja immer: Woran orientiert man sich bei seinen Entscheidungen? Ein wesentliches Korrektiv ist nun einmal ein Führungsleitbild. Das kann man aber auch ganz individuell für sich selbst entwickeln. Man kann sich also fragen, was für einen selbst Sinn und Zweck von Führung ist: „Wie verstehe ich Führung? Wie will ich meine Rolle definieren? Was ist für mich das Ziel? Was soll dabei herauskommen? Worauf will ich dabei achten? Was will ich damit bewirken?“ Wenn man diese Fragen für sich selbst beantworten kann und sie auch verinnerlicht hat, dann hat man in jeder Situation ein Korrektiv, an dem man sich messen kann. Wenn man z. B. ein schwieriges Mitarbeitergespräch hat, dann kann man sich in der Tat selbst befragen: „Bin ich hier eigentlich meinem eigenen Leitbild gerecht geworden?“ Wenn es ein Unternehmensführungsleitbild gibt, dann kann man sich fragen, ob man dem gerecht wird. Gibt es aufgrund Ihrer Erfahrung typische Fehler, die Menschen machen, wenn sie sich quasi auf die Erfolgsleiter begeben? Sie haben ja auch ein Buch geschrieben mit dem Titel: „Sinnvoll erfolgreich!“ Wo ist denn da der Gegensatz zwischen sinnvoll und erfolgreich?

Ich glaube, dass vor ungefähr zehn Jahren ein großes Problem angefangen hat: eine bisschen eine Entgleisung, bei der Erfolg so etwas wie ein Fetisch geworden ist. Ich meine damit dieses „Größer, höher, länger, weiter, schneller…“ Das betrifft sowohl den einzelnen Menschen wie auch die Unternehmen. Wir erleben, dass sehr, sehr viele Menschen Karriere machen bzw. das anstreben, aber selbst sehr, sehr unzufrieden sind dabei. Man muss sich ja nur einmal ansehen, wie viele Depressionen es im Management

Drogenkonsum im Management? Ja, der Alkoholmissbrauch ist im Management weit verbreitet. Sie brauchen ja nur einmal in irgendein erstklassiges Hotel gehen und abends an der Bar schauen, wer dort wie viel trinkt. Der Job, den diese Menschen ausüben, bedeutet sehr, sehr viel Stress. Wir erleben in unseren Seminaren, dass viele Führungskräfte keinen Ausgleich zu diesem Stress haben. Sie identifizieren sich ganz stark mit ihrer Rolle und bekommen dafür auch viel Anerkennung, einen hohen Status und auch viel Macht. Das ist zwar alles wunderbar, aber sie selbst als Personen, als Menschen gehen unter dabei. Das ist natürlich kein gutes Fundament, denn gerade in einer schwierigen Zeit muss man als Führungskraft eine relativ gut entwickelte und auch flexible Persönlichkeit besitzen. Das heißt, man muss sich selbst in einem relativ guten Gleichgewicht befinden, damit man gut führen kann. Meine Erfahrung ist, wenn sich Führungskräfte mir gegenüber öffnen, dass sich ganz viele einfach überfordert fühlen, dies aber nicht zeigen dürfen. Denn das ist natürlich tabu: Sie müssen nach außen die unerschütterlichen Helden spielen, die auf alles eine Antwort wissen und mit allem klar kommen. Das heißt, diese Menschen müssen im Grunde genommen einen ziemlichen Spagat machen. Ein Teil ihrer Energie geht also dafür drauf, den coolen Max zu spielen, und sie haben Angst vor Enttarnung, sie haben Angst davor, dass jemand merken könnte, dass sie unsicher sind, dass sie Ängste haben usw. Das alles fordert natürlich einen hohen Preis. Man muss sich ja nur einmal solche Phänomene wie das Burnout-Syndrom ansehen, dieses „Ausbrennen“: Das hat sich in den letzten Jahren verzigfacht. Alleine die Zahl der Kliniken, die sich mit diesem Phänomen beschäftigen, hat sich vervierfacht. Aber auch hier ist es so: Kaum eine Führungskraft würde zugeben, dass sie ausgebrannt ist, dass sie jetzt Hilfe bräuchte. Nein, man erzählt dann viel lieber, man würde jetzt für längere Zeit nach Japan gehen und dort einen großen Deal landen. In Wirklichkeit liegen diese Menschen dann aber für ein paar Wochen in Garmisch in der Klinik. Das heißt, das alles hat auch sehr viel damit zu tun, ob man sich eingestehen kann, dass man selbst letztlich auch nur ein ganz normaler Mensch ist.

Welche Werte sollte denn ein Mensch für sich als wichtig erachten, der für sich beschlossen hat, dass er die Karriereleiter hochsteigen will? Gibt es da irgendwelche Prüfsteine, gibt es da irgendwelche Begriffe oder Leitsätze, an die er sich halten sollte?

Wir beobachten hier die Tendenz, und das war auch mit ein Grund dafür, dieses Buch „Sinnvoll erfolgreich“ zu schreiben, dass zunehmend mehr Menschen, die aufgrund ihrer Persönlichkeit für Führungsaufgaben in besonderem Maße geeignet sind, die also neben der fachlichen Kompetenz, die sie selbstverständlich brauchen, z. B. auch über eine hohe emotionale und soziale Kompetenz verfügen, auf Karriere bzw. auf weitergehende Karriereschritte verzichten. Sie sagen sich einfach: „Das tue ich mir nicht mehr an! Das brauche ich nicht. Mein jetziges Einkommen ist in Ordnung und daher kümmere ich mich lieber um meine Familie, um meine Freizeit, um mein Engagement in der Kirche oder im Sportverein usw.“ Es gibt da leider aber auch eine Gegenbewegung. Es gibt zunehmend mehr Menschen, die für Führungsaufgaben überhaupt nicht geeignet sind, weil sie nämlich mit Menschen nicht umgehen können – und Führung, zumindest Mitarbeiterführung bedeutet nun einmal, dass man mit Menschen umgehen können muss –, die also weder mit sich selbst noch mit anderen Menschen umgehen können und für die Karriere dennoch das Allertollste ist. Sie sind bereit, jeden Preis zu zahlen, um Karriere zu machen! Das ist natürlich ein großes Problem und damit sind wir wieder beim Thema Unternehmenskultur angelangt. Wen lädt die Unternehmenskultur ein? Welche Menschen zieht sie an? Ist Platz für die, die wirklich kompetent führen können? Sind solche Menschen überhaupt erwünscht? Wenn nämlich die Unternehmenskultur dem widerspricht, dann haben kompetente Führungskräfte natürlich ein echtes Problem, weil sie sich in Kollision mit der Unternehmenskultur befinden. Dies hält aber auf Dauer kein Mensch aus. Das ist also eine Tendenz, die wir seit einigen Jahren beobachten und die wir als sehr problematisch erachten. Jemand, der gut und dauerhaft führen will und dabei auch noch gesund bleiben will, der muss zuerst einmal sich selbst führen können. Das heißt, er muss erst einmal danach trachten, in seinem eigenen Leben die Führungsrolle zu übernehmen. Dazu gehört mehr als nur der äußere Erfolg. Dazu gehört auch Erfüllung, Wohlbefinden, also auch all diese „weichen Faktoren“, die das Leben eben auch ausmachen und die wiederum eine ganz wichtige Voraussetzung für Leistungsfähigkeit sind. Haben wir da nicht eine ganz große Lücke in unserem Ausbildungssystem im weitesten Sinne? Bilden wir Führungskräfte wirklich so aus, dass sie hinterher auch tatsächlich gut führen können, gerade auch im Hinblick auf das, was Sie zuletzt gesagt haben?

Nein, ich denke, die Ausbildung auf diesem Sektor ist schlecht. Häufig ist es so, dass Menschen aufgrund ihrer zweifelsfrei hohen Fachkompetenz in Führungspositionen hineinkommen. Speziell in technischen Berufen liegt das sehr nahe. Das sind hoch qualifizierte Leute, die das Unternehmen an sich binden will und denen man daher Führungspositionen gibt. Diese Menschen haben jedoch Führung nie gelernt. Häufig ist es so, dass gesagt wird: „Wir werfen sie ins kalte Wasser und dann schwimmen sie entweder oder gehen halt unter!“ Dass diese Menschen gefördert werden, dass man ihnen die Zeit gibt, sich selbst zu entwickeln, dass es Feedback-Schleifen gibt, dass sie eine Rückmeldung bekommen, dass sie sich ausprobieren können und dass sie Chance haben, aus ihren Erfahrungen auch wirklich lernen zu können, ist häufig nicht der Fall. Und damit sind wir wieder beim Thema „Druck“ angelangt. Der Druck ist sehr groß. Zuerst und vor allem zählt immer das unmittelbare Ergebnis. Häufig ist es so, dass eine Führungskraft spätestens nach zwei Jahren von dieser Position wieder weg ist und sich dann in irgendeiner anderen Position in einer anderen Abteilung beweist. Dadurch ist es natürlich auch schwer, wirkliche Führungskompetenzen aufzubauen. Und da gibt es eben auch dieses berühmte „Peter-Prinzip“, d. h. Führungskräfte werden häufig genau im Bereich ihrer Inkompetenz befördert. Das geht so lange, bis sie „endlich“ in einer Position angelangt sind, mit der sie dann wirklich überhaupt nicht mehr klar kommen.

Das Peter-Prinzip sollten wir vielleicht kurz erläutern. Es besagt: Da ja jeder so lange befördert wird, wie er sich als kompetent erweist, wird er dann eben nicht mehr befördert, wenn er sich als inkompetent erweist. Wenn eine Organisation dann also eines Tages „im Gleichgewicht“ ist, kann man sagen, dass alle Plätze in der Führungsetage mit inkompetenten Leuten besetzt sind. Das ist zwar sehr zugespitzt ausgedrückt, aber im Prinzip haben Sie Recht. Das ist zwar ein Bonmot, das man immer wieder mal ganz gut in eine Diskussion einbringen kann, aber gibt es denn dieses Prinzip tatsächlich in der Wirklichkeit der Unternehmen? Kommt es denn wirklich zu diesem Zustand?

Das passiert in der Tat. Es passiert wirklich, dass Menschen mit großer Führungsverantwortung betraut werden, die schlichtweg nicht führen können. Diese Situation gibt es tatsächlich. Es gibt aber auch die Situation, und das erleben wir eben auch zunehmend, dass Führungskräfte auf den nächsten Schritt auf der Karriereleiter verzichten oder z. T. sogar zurückgehen, weil sie sich sagen: „Ich gehe auf die Stelle, an der ich am meisten bewirken kann, auf der ich mich am wohlsten fühle und die für mich daher am stimmigsten ist.“ Auch das gibt es also in der heutigen Zeit zunehmend.

Sie haben ja vorher gesagt, dass gerade in technisch geprägten Unternehmen die Gefahr besonders groß ist, dass Menschen allein kraft ihrer technischen Kompetenz auf einen Führungsposten kommen und dabei oft vollkommen unberücksichtigt bleibt, inwieweit sie überhaupt über die menschlichen Qualifikationen verfügen, die man zur Führung von Menschen benötigt. Haben wir da auf diesem Gebiet in Deutschland ein besonderes Problem, weil wir ja doch sehr viele sehr technisch geprägte Unternehmen haben? Ist das eine Gefahr, die unserer Wirtschaft droht?

Ich kann das nicht wirklich kompetent beantworten, weil mir schlichtweg die Erfahrung fehlt mit Unternehmen z. B. in den USA. Ich arbeite nämlich nur im deutschsprachigen Raum, also in Deutschland, in Österreich und in der Schweiz. Mir fällt in diesem Zusammenhang gerade ein Kreis von Führungskräften ein, mit dem ich arbeite, in dem die Menschen aus technischen Berufen kommen. Dort ist es wirklich so: Sie haben eine Sehnsucht danach, dass solche Themen überhaupt aufgegriffen werden. Sie haben einfach das Gefühl, dass sie im Alltag dafür gar keine Zeit haben. Diese Menschen betreuen im Alltag immer relativ große Projekte: Solche Projekte müssen laufen, müssen funktionieren. Die Mitarbeiterführung läuft da nur nebenher. Das wird immer erst dann ein Thema, wenn es ein ernsthaftes Problem gibt. Ich erlebe es also immer wieder, dass Führungskräfte auf diesem Gebiet wirklich den Eindruck eines trockenen Schwamms machen: Sie saugen diese Themen regelrecht auf! Ich bekomme oft die Rückmeldung: „Dafür bräuchte man eigentlich viel mehr Zeit! Das erleichtert uns nämlich das Leben im Alltag enorm!“

Könnte denn die Lösung nicht auch darin bestehen, dass man meinetwegen eine zusätzliche Führungsebene schafft, indem man eine Art Beirat einrichtet. Viele Unternehmen haben ja auch in der Tat so etwas wie einen Beirat. Dieser Beirat ist oder wäre für das ganz langfristige Gedeihen des Unternehmens zuständig: Dieser Beirat gibt dann eben auch die Rückmeldung, inwieweit die Unternehmenskultur auch wirklich gelebt wird.

Ich fände es toll, wenn es so etwas gäbe wie einen Kulturbeauftragten, der z. B. in Großunternehmen wirklich einen Vorstandsposten hätte. Das müsste jemand sein, der immer wieder den Finger hebt und sagt: „Halt, Leute, lasst uns mal schauen, was das eigentlich für unsere Unternehmenskultur bedeutet!“ Das fände ich toll.

Das setzt aber voraus, dass diese Position auch wirklich mit der nötigen Macht und dem nötigen Ansehen ausgestattet ist. Dies hängt natürlich wiederum von der eigenen Persönlichkeit ab. Die andere Frage ist aber, wer eine Person in diese Position beruft. Denn das heißt, es müsste an der Spitze des Unternehmens jemanden geben, der die Größe hat zu sagen: „Wir brauchen so jemanden!“ Damit bin ich bei einer Äußerung von Otto von Bismarck angelangt, der, wenn ich das mal so paraphrasierend sagen darf, einmal gemeint hat: „Wenn in der Führung ein Raketentreibsatz drin ist, dann geht es gut. Wenn der nicht da ist, wenn die Führung also keinen Treibsatz hat, dann kann man das eigentlich vergessen!“ Ist das in dieser Vergröberung richtig?

Ja, wobei man aber schon auch sagen muss, dass es leider typisch ist, immer nur nach oben zu gucken in dieser Problematik. Das machen natürlich alle gerne: Jede Führungskraft, mit der ich arbeite, hat ja, wenn das nicht gerade ein Vorstandsvorsitzender ist, jemanden über sich. Selbst der Vorstandsvorsitzende könnte sagen, er hätte den Aufsichtsrat und die Aktionäre über sich. Es geht mir nicht um dieses Schielen nach oben: Das wir nämlich häufig als ein Alibi benutzt. Ich kenne es aus Führungsseminaren, dass mir da die Menschen sagen: „Ja, Herr Huber, Sie haben vollkommen Recht und genauso müsste man das machen. Aber eigentlich müsste nicht ich hier sitzen, sondern mein Chef!“ Ich denke aber, dass jeder, der Führungsverantwortung hat, und sei es, dass er nur drei Mitarbeiter führt, denn die Anzahl der Mitarbeiter ist eigentlich egal, im Grunde genommen sehr wohl Möglichkeiten hat, eine ganze Menge zu bewirken und für die Unternehmenskultur zu tun; vielleicht nicht für das ganze Unternehmen, aber für seine Abteilung, für seine Mitarbeiter. Ich denke, Veränderungen fangen immer bei jedem einzelnen an. Dieses Gucken nach oben, dieses Klagen, dass das alles nicht ginge, dass man das alles halt einfach nicht machen könne, bin ich nur dann bereit zu akzeptieren, wenn mir derjenige, der das sagt, wirklich glaubhaft versichern kann, dass er das bereits versucht hat. Dann ist das in der Tat in Ordnung, denn es gibt einfach auch Grenzen, an die man stößt. Das kennt jeder aus seinen eigenen Erfahrungen. Aber es gibt eben auch diese Alibiaussagen: „Wir können nichts tun, weil bei uns…“

Es wird ja gesagt, dass Führung, je höher sie angesiedelt ist, zunehmend mehr aus reiner Personalführung, aus reiner Personalauswahl und Personalverantwortung besteht. Wie sieht es denn Ihrer Meinung nach aus, wenn Sie die Unternehmenskultur gegen die Personalauswahl abwägen? Was ist da wichtiger?

Diese beiden Bereiche haben natürlich viel miteinander zu tun. Denn in einer funktionierenden Unternehmenskultur achtet man eben darauf, dass die neuen Mitarbeiter, die man einstellt, auch tatsächlich kompatibel sind zur vorhandenen Unternehmenskultur. Das ist wirklich ein Einstellungskriterium in solchen Betrieben. Man schaut also: „Passt der zu uns?“ Wenn keine gute Unternehmenskultur ausgeprägt ist oder womöglich gar nicht vorhanden ist, dann spielt so etwas keine Rolle. Aber letztlich sind diese beiden Bereiche nun einmal ganz stark miteinander verzahnt. Es spielt eine Rolle, welche Mitarbeiter man einstellt. Häufig sind das ja auch interne Stellenausschreibung: Man achtet oder achtet eben nicht darauf, welches Persönlichkeitsprofil die betreffende Person hat, die diese Führungsposition übernehmen soll. Auch das ist eben eine Botschaft an die Unternehmenskultur: „Welche Leute fördern wir bei uns im Unternehmen? Was sind für uns die entscheidenden Kriterien, dass bei uns jemand Karriere macht?“ Das alles sind Botschaften an die Unternehmenskultur. Insofern hängen also diese beiden Bereiche wirklich sehr eng miteinander zusammen.

Es gibt ja große und erfolgreiche Unternehmen, die so eine Art Grundsatz haben, dass derjenige, der bei ihnen eine Führungsposition einnimmt, vorher schon mal zwei, drei Jahre lang den „Stallgeruch“ dieses Unternehmens angenommen haben muss. Ist das aus Ihrer Sicht sinnvoll oder wäre es nicht manchmal doch besser, man holte sich ganz „frisches Blut“ von außen, also Leute, die völlig unbelastet und unbeleckt sind in dieser Hinsicht?

Ich glaube, es wird beides gemacht. Gerade in oberen Führungspositionen werden viele Führungskräfte von außerhalb geholt. Sie haben es u. U. auch tatsächlich leichter akzeptiert zu werden oder zumindest erst einmal einen Vorschuss in dem Sinne zu bekommen, dass die anderen Mitarbeiter sagen: „Gut, wir kennen den nicht, jetzt schauen wir erst einmal, wie er sich entwickelt!“ In dem Moment, in dem jemand wirklich kompatibel ist zur Unternehmenskultur, ist es eigentlich relativ egal, ob er von außen oder von innen kommt. Wobei die Botschaft, wenn jemand von innen einen Führungsposten übernimmt, natürlich lautet: „Bei uns kann man wirklich Karriere machen! Wir bieten dir Entwicklungsmöglichkeiten!“ Für viele Menschen ist ja genau das auch ein sehr wichtiger Teil ihrer Bezahlung jenseits des Geldes: dass sie sich entwickeln wollen und können, dass sie weiterkommen wollen und können, dass sie lernen und mehr Verantwortung haben wollen. Ein solches Vorgehen ist ein wichtiger Faktor, um gute Mitarbeiter an das Unternehmen zu binden.

Wir haben vorhin von der Kompatibilität gesprochen. Damit sind wir sehr nahe beim Begriff der Teamfähigkeit, der in unserem Gespräch bis jetzt noch nicht ausdrücklich gefallen ist, der aber in fast jeder Stellenanzeige an ganz prominenter Stelle steht: umso häufiger und prominenter, je höher der Posten ist, der neu zu besetzen ist. Ist das nur ein Schlagwort oder ist Teamfähigkeit wirklich wichtig? Ist das möglicherweise nur ein Schirm, hinter dem sich etwas ganz anderes verbirgt?

Sagen wir mal so: Es wäre schön, wenn die Teamfähigkeit wirklich so wichtig wäre, wie sie propagiert wird. Die Frage ist nämlich immer: Wird sie denn eigentlich überprüft? Überprüft man wirklich die Teamfähigkeit und woran misst man sie? Misst man sie nur am Ergebnis, indem man sagt: „Jemand führt sein Team in dem Moment gut, wenn er ein besseres Ergebnis hat als andere oder wenn er die Vorjahreszahlen übertrifft!“? Die Antwort auf diese Frage ist nämlich hinsichtlich der Teamfähigkeit nur relativ wenig aussagekräftig. Und darüber hinaus bringt das Führungskräfte in ein Dilemma, wenn sie ausschließlich am Ergebnis gemessen werden: Sie müssen sich dann nämlich fragen, wo sie die Priorität setzen. Sie können dann nämlich auch hergehen und sagen: „Gut, wenn ich am Ergebnis gemessen werde, dann schaffe ich dieses Ergebnis auch und kümmere mich dabei nicht um irgendwelche Kollateralschäden, die ich dabei anrichte!“ Oder wird eine Führungskraft auch daran gemessen, ob und wie weit sie das Team und die Mitarbeiter weiterentwickelt, ob sie deren Kompetenz weiterentwickelt usw. Das heißt, es ist also eine wichtige Frage, woran Führung und Teamfähigkeit eigentlich gemessen werden. Das alles hat natürlich auch mit Bezahlung zu tun: Ist Mitarbeiterführung wirklich ein Teil der Tätigkeit, der in die Bezahlung einfließt? Oder geht es da nur um das Ergebnis, wie das normalerweise bei Tantiemen läuft? Die Situation für Führungskräfte sieht daher so aus: Jemand, der sich hinter sein Team stellt – wir hatten ja bereits das Thema „Demut und Dienen“ angesprochen –, steht natürlich auch ein bisschen im Hintergrund dadurch. Der ist dann vielleicht nicht der Superstar, den jeder kennt: Er hat halt „nur“ eine tolle Abteilung, von der alle sprechen, aber niemand sagt von ihm, er sei ein toller Hecht. Und möglicherweise wird genau so jemand bei der nächsten Beförderung dann auch übersehen. Damit sind wir erneut beim Thema „Unternehmenskultur“ angelangt. Es muss erkennbar sein, worauf das Unternehmen hinaus will: Welche Werte gibt es? Welche Werte werden gefördert, werden in aller Konsequenz wirklich gefördert?

Ist also die leistungsorientierte Bezahlung, die in den Anzeigen oft versprochen wird, möglicherweise irreführend, weil sie zu sehr an den allgemeinen Kennzahlen ausgerichtet ist?

Ja, denn im Grunde ist es ja so, wenn wir beim Thema „Unternehmenskultur“ bleiben: Da gibt es eigentlich zwei Bilanzen. Es gibt eine rein wirtschaftliche Bilanz und es gibt eine Bilanz des Mitarbeiterengagements, der Mitarbeiterkompetenz. Wenn die wirtschaftliche Bilanz erhöht wird…

Wenn also der Umsatz steigt, wenn der Gewinn erhöht wird.

Genau. Wenn das aber auf Kosten der „Humanbilanz“ geht, wenn ich das einmal so ausdrücken darf, wenn das also auf Kosten der Menschen in diesem Unternehmen geht, dann geht das kurzfristig zwar gut, langfristig wird sich dieses falsche Vorgehen dann jedoch auch in Zahlen niederschlagen. Das heißt, an diesem Punkt ist eben auch immer abzuwägen, was eine bestimmte wirtschaftliche Entscheidung für die Unternehmenskultur bedeutet: Kann ich diese Entscheidung den Mitarbeitern auch wirklich kommunizieren, sodass sie mitgehen können? Natürlich kann man das wirtschaftliche Ergebnis als alleinigen Maßstab verwenden. Viele der großen Unternehmen sind ja genötigt, Quartalszahlen abzuliefern: Diese Zahlen haben eine riesengroße Bedeutung, denn sie spiegeln sich sofort in den Aktienkursen wieder.

Und damit natürlich auch in der Bezahlung der Führungskräfte.

Natürlich. Wenn man also dazu gezwungen ist, in drei Monaten ein gutes Ergebnis zu präsentieren, dann hat man eigentlich nicht die Rahmenbedingungen, sich damit zu beschäftigen, was in einem Jahr, in zwei Jahren, in drei Jahren der Fall sein wird mit diesem Unternehmen. Das Ganze ist also eine einzige Hetze von einem Ergebnis zum nächsten. Es gibt aber auch Unternehmen, die sagen: „Wir machen das nicht mit!“ Es gibt z. B. ein großes deutsches Unternehmen, das sagt: „Wir verzichten darauf, in den DAX aufgenommen zu werden, weil wir nämlich nicht bereit sind, Quartalszahlen zu veröffentlichen. Diese Zahlen sagen überhaupt nichts über den Erfolg und über die Perspektiven unseres Unternehmens aus!“ Insofern stellt sich also immer die Frage: Wie sehr wird die Mitarbeiterführung wirklich gewichtet? Wie kann man feststellen, ob eine Führungskraft auch wirklich gut führt? Damit sind wir nun beim Thema „Feedback“ angelangt und dabei, auch tatsächlich die Mitarbeiter zu befragen. Denn sie sind ja die Einzigen, die das beurteilen können. Warum geht man in einem großen Unternehmen nicht her und fragt die Mitarbeiter: „Wie zufrieden seid ihr mit eurer Führungskraft?“ In vielen Unternehmen wird so etwas ja tatsächlich gemacht. Das Ergebnis dieser Befragungen spiegelt sich dann eben auch in der Bezahlung der Führungskräfte wieder.

Das setzt allerdings großen Mut auf Seiten der Unternehmensleitung voraus.

Ich weiß nicht, ob das großen Mut voraussetzt. Denn wenn die Mitarbeiter mit der Führungskraft unzufrieden sind, dann sind sie unzufrieden – egal ob man sie fragt oder nicht. Und die Konsequenzen sind ebenfalls dieselben. Wenn man sie jedoch fragt, dann haben die Mitarbeiter zumindest das Gefühl, dass sie sich äußern können und zumindest die Chance besteht, dass sich etwas verändert. Wenn es eine gute Feedbackkultur gibt, dann ist das enorm wertvoll. Selbstverständlich ist keiner perfekt. Aber bei einer guten Feedbackkultur haben die Führungskräfte eben auch die Chance, sich zu entwickeln und zu wachsen. Wenn jedoch niemand Rückmeldung gibt, wenn nur noch hintenrum gemauschelt wird, was der und der schon wieder für Mist gemacht habe usw., dann hilft das einer Führungskraft in der eigenen Entwicklung nicht weiter.

Das war das alpha-forum, heute mit Hans-Georg Huber, Managementberater.

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